Informationen zu psychischen Störungen

Die folgenden Anmerkungen sind entnommen aus Reinecker (2006), Verhaltenstherapie mit Erwachsenen, © Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Alkohol

Gebrauch

Der soziokulturellen Norm entsprechender, unauffälliger Konsum.

Wegen der fließenden Übergänge und der vielfältigen Trinksitten kommt als Orientie­rungshilfe der Grenzwert der gesundheitsschädigenden Trinkmenge in Betracht, der nach der WHO für Männer bei 40 Gramm reinem Alkohol (etwa ein Liter Bier) und für Frauen bei 20 Gramm reinem Alkohol liegt. Der Konsum sollte nicht täglich sein.

Missbrauch

Fortgesetzter Gebrauch von Alkohol trotz des Wissens um ständige soziale, beruf­liche, psychische und körperliche Probleme.

Wiederholter Gebrauch in Situationen, die zu körperlicher Gefährdung führen (z. B. als Verkehrsteilnehmer).

Trinken um eine Wirkung zu erzielen. Das Trinken zielt auf eine Veränderung der Be­findlichkeit ab.

Dieses Verhalten besteht seit mindestens einem Monat bzw. tritt wiederholt über län­gere Zeit auf.

Abhängigkeit

Diese Diagnose wird vergeben, wenn drei oder mehr der folgenden Kriterien gleichzeitig während des letzten Jahres vorhanden waren:

Alkohol wird in größeren Mengen als beabsichtigt eingenommen.

Anhaltender Wunsch, den Alkoholkonsum zu verringern.

Häufiger Auftreten von körperlichen Entzugssymptomen bei Beendigung oder Ver­ringerung des Konsums.

Entwicklung einer Toleranz, d. h. es muss immer mehr Alkohol konsumiert werden, um die gewünschte Wirkung zu erzielen.

Fortschreitende Vernachlässigung beruflicher, sozialer oder Freizeitinteressen zuguns­ten des Alkoholkonsums; erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.

anhaltender Alkoholkonsum trotz des Wissens um eindeutige schädliche Folgen.

Borderline

Das Vorliegen von mindestens fünf der folgenden Kriterien spricht für die Diagnose einer Borderline-Störung:

Starke Angst davor, verlassen zu werden.

Instabile, aber intensive zwischenmenschliche Beziehungen, die häufig durch einen Wechsel zwischen Idealisierung und Abwertung geprägt sind.

Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität.

Impulsive Handlungen, z. B. hinsichtlich Sexualität, Substanzmissbrauch (Alkohol, Drogen), rücksichtsloses Fahren, Geldausgeben, Essattacken.

Wiederholte Selbstmordandrohungen, Selbstmordversuche und Selbstverletzungen, z. B. Ritzen an den Armen und Beinen.

Schneller Wechsel von gegensätzlichen und oft extremen Gefühlen.

Chronisches Gefühl von innerer Leere.

Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, Ärger und Wut zu kontrollieren, z. B. Wutausbrüche, körperliche Auseinandersetzungen.

Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste Unwirklichkeitsgefühle oder Gefühle, verfolgt zu werden oder sich nicht mehr im eigenen Körper zu befinden.

Beispiel: Frau W. beklagt sehr schnelle Stimmungsumbrüche. Häufig fühle sie sich traurig, „innerlich total leer“, bemerke dabei gleichzeitig eine „extreme innere Span­nung“. Die Nähe anderer Menschen könne sie nur schwer ertragen, manchmal rea­giere sie sogar impulsiv und mit Wutausbrüchen. Überhaupt belaste sie diese „un­erklärliche Wut im Bauch“, „als wenn ich in der Magengegend innerlich verbrenne oder als müsste mein Bauch aufplatzen“. Meistens funktioniere sie jedoch ganz gut, so dass die anderen sie für „einen starken Menschen“ hielten, die würden ihr „inneres Chaos“ nicht bemerken, weil sie so eine „perfekte Maske“ trage. Manchmal wisse sie selbst nicht, wer sie eigentlich sei. Oder sie fühle sich „irgendwie unwirklich“. Immer wieder habe sie Selbstmordwünsche. Sie habe auch schon versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen. Manchmal komme es sogar vor, dass sie unter Druck Stimmen aus ihrem Inneren höre, vor allem handele es sich dabei um eigene Gedanken.

Depression

Depressionen gehören zu den am häufigsten auftretenden psychischen Problemen. Sie sind den meisten Menschen im Sinne gedrückter Stimmung, Niedergeschlagenheit oder Mutlosigkeit und Verzweiflung zumindest teilweise vertraut. Allerdings ist nicht jede ge­legentlich auftretende Mutlosigkeit, Trauer oder Niedergeschlagenheit behandlungsbe­dürftig. Erst wenn diese Gefühle über einen längeren Zeitraum auftreten und die Lebens­qualität erheblich beeinträchtigen, sollte eine professionelle Unterstützung in Erwägung gezogen werden. Hauptmerkmale klinischer Depression sind stark gedrückte Stimmung, Grübeleien, Inter-essenverlust sowie Antriebslosigkeit, Passivität und sozialer Rückzug.

Beispiel: Frau U. ist verzweifelt darüber, dass sie ihre Arbeit in einem Steuerbüro ein­fach nicht mehr schafft. Sie erwartet, jeden Tag den Kündigungsbrief zu bekommen. Sie könne sich einfach nicht konzentrieren. Es sei ohnehin ein Fehler gewesen, die Ausbildung zur Steuerfachgehilfin gemacht zu haben, da sie dafür zu dumm sei. Nun habe sie ihr Leben verpfuscht und sei hoffnungslos bezüglich der Zukunft und wie es mit ihr weitergehe. Sie erledigt so gut es geht ihre Arbeit, zieht sich danach in ihre Wohnung zurück und grübelt über ihre eigene Unzulänglichkeit. Die Beziehung zu dem Freund, der entfernt wohnt, wird durch die massiven Klagen und Selbstabwer­tungen zunehmend belastet.

Essstörung

Magersucht (Anorexia Nervosa)

Auffallendes Merkmal der Magersucht ist die extreme, durch strenges Hungern herbeige­führte Gewichtsabnahme. Die Betroffenen erleben sich dabei noch immer als unakzeptabel dick. Um Vorwürfen und Kommentaren zu entgehen, verstecken sie ihren Körper oft in sehr weiter Kleidung, sie kochen ausgiebig für andere und beschäftigen sich viel mit Re­zepten, Kochbüchern usw., essen selbst jedoch nichts oder täuschen das Essen nur vor.

Für das Vorliegen einer Magersucht gelten folgende Kriterien:

Beginn vor dem 25. Lebensjahr.

Gewichtsverlust mehr als 25 Prozent.

Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt, z. B. durch streng kontrollierte und ein­geschränkte Nahrungsaufnahme (Vermeidung von hochkalorischen Speisen), selbst herbeigeführtes Erbrechen oder Abführen, übertriebene sportliche Aktivität oder den Gebrauch von Appetitzüglern/Entwässerungstabletten.

Starke Angst vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu sein, trotz bestehenden Untergewichts (Körperschemastörung).

Körperliche Folgen wie Ausbleiben der Monatsblutung (Amenorrhoe), Herzrhyth­musstörungen, Unruhe, Frieren.

Körperliche Folgen der Magersucht können außerdem Veränderungen von Stoffwechsel, Pulsfrequenz, Blutdruck und Körpertemperatur sein, bis hin zu lebensbedrohlichem Kräf­teverlust (fünf bis zehn Prozent der PatientInnen sterben an der Magersucht!).

Magersucht tritt überwiegend bei jungen Frauen auf (ca. 90 Prozent), die Erkrankung be­ginnt meist in der Pubertät, insgesamt sind in den westlichen Industrienationen ein halbes bis ein Prozent aller Jugendlichen (12 bis 20 Jahre) von dieser Essstörung betroffen.

Bulimie (Bulimia Nervosa, Ess-Brechsucht)

BulimikerInnen sind meist normalgewichtig, aber davon überzeugt, „zu dick“ zu sein.

Für das Vorliegen einer Bulimie gelten folgende Kriterien:

Heißhungerattacken, in denen in kurzer Zeit große Mengen an Nahrung verzehrt wer­den (mindestens zweimal wöchentlich über drei Monate hinweg).

Ständige gedankliche Beschäftigung mit Essen, heimliches Essen.

Ausgleichende Maßnahmen zur Vermeidung von Gewichtszunahmen (z. B. Erbre­chen, Abführen).

Starke Angst vor Gewichtszunahme.

Bewusstsein der Unnormalität des Essverhaltens.

Körperliche Folgen der Bulimie können beispielsweise Reizungen der Speiseröhre, Ka­ries, Störungen des Elektrolythaushaltes (z. B. Kalium-, Magnesiummangel), Herzrhyth­musstörungen und Nierenschäden sein.

Bulimie tritt bei ca. zwei bis vier Prozent der jungen Frauen auf, die Dunkelziffer ist sehr hoch. 90 Prozent der Betroffenen sind Frauen, das Erkrankungsalter liegt mit 20 bis 30 Jahren höher als bei der Magersucht, häufig findet sich bei BulimikerInnen in der Vorge­schichte eine Magersucht.

Generalisierte Angststörung

Im Zentrum der Generalisierten Angsterkrankung stehen häufige, langandauernde Sorgen und Ängste. Der Begriff „generalisiert“ bezieht sich darauf, dass die Ängste in vielen Si­tuationen auftreten können und verschiedene Bereiche betreffen (z. B. „Mein Ehemann könnte einen Unfall haben!“, „Ich könnte etwas im Beruf falsch machen!“, „Das Geld könnte nicht ausreichen!“). Die Sorgen sind im Kern durchaus realistisch (z. B. ist es mög­lich, dass jemand verunglückt oder erkrankt), werden jedoch von den Betroffenen als über­aus intensiv und nur schwer kontrollierbar erlebt. Nicht unter die Diagnose Generalisierte Angst fallen Sorgen, die sich auf ein konkretes Ereignis bzw. eine Situation beziehen oder Sorgen über eine eigene körperliche oder psychische Erkrankung bzw. deren Folgen.

Die Ängste und Sorgen führen zu erhöhter körperlicher Anspannung und einer Überer­regung des zentralen Nervensystems. Dies äußert sich in Beschwerden wie z. B. Muskel­verspannungen, Schlafstörungen, Unruhe, Nervosität, Müdigkeit und/oder verminderter Leistungsfähigkeit.

Etwa fünf Prozent aller Menschen leiden irgendwann in ihrem Leben einmal an einer Generalisierten Angsterkrankung. Damit gehört diese zu den häufigen psychischen Stö­rungen.

Panikstörung und Agoraphobie

Von einer Panikattacke sprechen wir dann, wenn eine Person vollkommen unerwartet in­tensive körperliche Empfindungen erlebt, die so bedrohlich für sie sind, dass sie meint, dem Tode nahe zu sein, einen Herzinfarkt zu erleiden, die Kontrolle zu verlieren, ohn­mächtig oder verrückt zu werden. Die hervorstechendsten Symptome sind Herzklop­fen, Schwindel oder Benommenheit, Gefühl des Kontrollverlustes, der Atemnot, Brust­schmerzen, Schwitzen, Zittern, Hitze- oder Kälteschauer, Kribbeln in den Fingern usw. Da die körperlichen Symptome im Vordergrund stehen, kommen die Betroffenen zunächst gar nicht auf die Idee, dass es sich um ein Angstproblem handeln könnte. Rund die Hälfte aller Menschen erlebt im Laufe ihres Lebens eine solche Panikattacke; diese ist allerdings in der Regel von kurzer Dauer.

Die Merkmale einer Panikstörung sind erst dann gegeben, wenn diese Zustände wieder­holt auftreten und zu einer deutlichen Beeinträchtigung des Betroffenen führen. Da Panikattacken typischerweise mit dem starken Drang verbunden sind, den Ort zu verlassen, an dem der Angstanfall auftritt, vermeiden viele Patienten Situationen, in denen eine Flucht schwierig oder peinlich sein könnte, man spricht dann von einer Agoraphobie.

Der Begriff der Agoraphobie war ursprünglich eine Bezeichnung für eine Angst vor wei­ten Plätzen, Menschenansammlungen usw.; gemeint ist heute eine allgemeine Angst ei­ner Person, eine Situation nicht verlassen zu können, in Panik zu geraten oder Hilfe nicht schnell genug erreichen zu können. Patienten vermeiden sehr viele Situationen, die für sie eine Gefahr in diesem Sinne darstellen, z. B. öffentliche Verkehrsmittel, Kaufhäuser, aber auch das Verlassen der eigenen, sicheren Räumlichkeiten. Sofern eine totale Vermei­dung nicht möglich ist, werden die Situationen nur in Begleitung aufgesucht oder unter größtem Unbehagen bzw. der anhaltende Besorgnis davor, eine weitere Panikattacke zu erleiden, durchgestanden. Diese „Angst vor der Angst“ gilt als besonders typisch für Ago­raphobiker.

Posttraumatische Belastungsstörung

Eine PTB liegt vor, wenn sich nach einem traumatischen Erlebnis folgende Symptome einstellen und nicht wieder von alleine verschwinden:

das unausweichliche Erinnern oder Wiedererleben des traumatischen Ereignisses in Gedächtnis, Tagträumen oder Träumen (die betroffene Person glaubt, sie befindet sich wieder unmittelbar in der traumatischen Situation),

die Vermeidung von Aktivitäten und/oder Situationen, die mit dem Trauma verbunden sind oder daran erinnern könnten,

das anhaltende Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, der Gleichgül­tigkeit gegenüber anderen Menschen und der Umgebung,

das Vorliegen einer ständigen vegetativen Übererregtheit (Schreckhaftigkeit, Schlaf­störungen, Reizbarkeit, Wutausbrüche, Konzentrationsstörungen).

Beispiel: Frau K. war vor zwei Monaten in einen schweren Autounfall verwickelt. Auf dem Weg zur Arbeit ist vor ihr auf der Autobahn ein LKW ins Schlingern geraden und hat sich quer gestellt, so dass die unmittelbar folgenden Autos in ihn hineingefahren sind. Frau K. konnte noch rechtzeitig bremsen. Sie stieg aus und half den verun­glückten Autofahrern. Die Bilder der verunglückten Menschen gehen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie träumt nachts von ihnen und wacht dann voller Panik auf. Selbst tagsüber hört sie manchmal die Schreie der eingeklemmten Personen. Sie kann sich seitdem auch nicht mehr in ein Auto setzen. Ständig hat sie den Geruch von Benzin in der Nase. Bei dem kleinsten Geräusch zuckt sie zusammen.

Soziale Phobie

Soziale Ängste („Phobien“) meinen die ausgeprägte und anhaltende Angst, in einer so­zialen Situation von anderen Personen beobachtet und negativ bewertet zu werden, für ängstlich, schwach, dumm, ungeschickt oder nicht normal gehalten zu werden. Aus Angst vor Blamage vermeidet die Person solche Situationen (teilweise oder vollständig). Am häufigsten werden öffentliches Sprechen, aber auch gemeinsames Essen, Trinken oder beobachtetes Schreiben sowie öffentliche Veranstaltungen zu einer Quelle von Verunsi­cherung, Angst und Vermeidung.

Schüchternheit in sozialen Situationen und mit fremden Personen ist weit verbreitet; eine soziale Phobie ist erst dann gegeben, wenn die Vermeidung, Angst oder ängstliche Erwar­tungshaltung die berufliche Funktionsfähigkeit oder das Sozialleben der Person erheblich beeinträchtigen und sie stark unter der Problematik leidet.

Es ist grundsätzlich sinnvoll, bei sozialer Angst folgende Ebenen zu unterscheiden:

Ebene des Verhaltens: Vermeidung und sozialer Rückzug oder Ertragen einer gefürch­teten Situation unter intensiver Angst etc.

Ebene der Gedanken: Gefühle und Gedanken der Blamage, der Demütigung und des Versagens usw.

Körperliche Ebene: Schwitzen, Zittern, Erröten, Magen-Darm-Beschwerden usw.

Unter einer sozialen Angst leidet in den industrialisierten Ländern etwa ein bis zwei Pro­zent der Bevölkerung, als Beginn gilt das frühe Erwachsenenalter (ca. 18. bis 20. Lebens­jahr). Männer und Frauen sind in etwa gleich häufig betroffen. Die Problematik ist in der Regel sehr stabil, der Bekanntenkreis der Betroffenen ist häufig klein und sie heiraten seltener.

Zwänge

Viele Gewohnheiten und Rituale sind Bestandteile unseres Lebens; sie erleichtern uns den Ablauf des Alltags, indem triviale Entscheidungen nicht jeweils neu getroffen werden müssen. Davon zu unterscheiden sind Zwangsstörungen, die für Betroffene und Angehö­rige eine enorme Belastung darstellen.

Für das Vorliegen von Zwangsstörungen gelten folgende Kriterien:

Die Person leidet unter einem inneren Drang, bestimmte Inhalte zu denken oder zu tun.

Die Person leistet einen Widerstand gegen den Impuls.

Die Person erkennt den Impuls als sinnlos.

Die Person erlebt eine deutliche Einschränkung in ihrem Lebensvollzug.

Beispiel: Frau L. leidet unter dem Gedanken, sie könnte sich beim Verlassen des Hauses verschmutzt haben. Beim Betreten des Hauses legt sie alle Kleider ab, be­gibt sich sofort in die Dusche, wäscht alle Kleider und reinigt den Fußboden. Auch ihre Familie wird in die Rituale einbezogen, sie müssen sich ebenfalls duschen oder zumindest waschen, wenn sie von draußen kommen. Die seit Jahren bestehende Pro­blematik führt zu einer immer deutlicheren Einschränkung, Frau L. verlässt das Haus immer seltener und isoliert sich zusehends.

Als Hauptformen von Zwängen werden unterschieden

Waschzwänge (s. Beispiel),

Kontrollzwänge, und

Gedankliche Zwänge.

Die einzelnen Formen treten in der Regel in Kombination auf.